Autor: Marcel Kückelhaus
»Gibst du mir einen Kuss?« fragt der Protagonist im Laufe des Stückes immer wieder. Für den jungen Anton ist die Frage ein Ruf nach mütterlicher Zuneigung, für den erwachsenen Antonio steht sie für die Sehnsucht nach Akzeptanz und vielleicht auch romantischer Liebe. Ungeachtet seines Alters bittet der Protagonist jedoch auch nach der Anerkennung seiner Menschlichkeit, welche die Gesellschaft ihm verweigert.
Marco Michel aus Berlin verkörperte bei seinem Beitrag am 07.11.2019 für die 22. Heidelberger Theatertage Ein Kuss – Antonio Ligabue den schweizerisch-italienischen Maler Antonio Ligabue. Als verhaltensauffällige Waise wird dieser nach Aufenthalten in Waisenhäusern und Psychiatrien letztendlich in das Heimatland seines Stiefvaters abgeschoben – Italien. Als verkanntes Talent wird er von der Gesellschaft ausgestoßen, verlacht und ausgenutzt, bis er sich selbst aus der quälenden Umgebung zurückzieht und ein Leben in Einsamkeit im Wald beginnt. Erst als ein anderer Maler seine Hütte aufsucht und ihm Zugang zu seinem Atelier gewährt, erkennen die anderen ihn für das, was er seit seiner Kindheit war: ein künstlerisches Genie. Doch erst durch seinen Tod akzeptiert die Gesellschaft Antonio Ligabue in ihrem Kreis und weiß selbst dann noch sein Andenken auszunutzen – der Verlust eines Künstlers wird zum finanziellen Gewinn jener, die nun scheinheilig voller Bedauern seine Bilder auf den Markt bringen und ihre Taschen füllen.
Marco Michels Auftritt als Antonio Ligabue ist intensiv, aufrührend und eindringlich. Die Bilder, die er live auf der Bühne zeichnet, sind nicht nur reine Kulisse – er malt Atmosphäre! Seine Kohlezeichnungen sind die eindrucksvolle Verkörperung der Charaktere, denen er allein seine Stimme leiht. Sie sprechen durch ihn und seine Bilder, sie engen ihn ein und grenzen ihn aus, und das Publikum wird ein Teil dieser Ausgrenzung. Wir, die Gesellschaft, sitzen auf der einen Seite und starren neugierig auf jenen, der anders ist wie auf ein wildes Tier im Wald. Dann hält uns der Protagonist einen Spiegel vor, blendet uns und zwingt uns den Blick abzuwenden, um dann eine andere Perspektive einzunehmen und den Ausgegrenzten wahrzunehmen.
Das Theaterstück von Mario Perrotta thematisiert die Problematik der Zugehörigkeit und der Ausgrenzung – der Kunst und des Wahnsinns. Die Erfüllung der Sehnsucht des Individuums abhängig von den anderen:
»Gibst du mir einen Kuss?« – »Nächstes Mal, Anton, nächstes Mal…«
Dies war der erste Beitrag im Rennen um den 22. Heidelberger Theaterpreis. Wer Interesse an weiteren Beiträgen aus der ganzen Bundesrepublik hat findet Informationen unter: https://www.theaterverein-hd.de/2019-programm.
Tickets gibt es für Studierende im Vorverkauf jeden Montag und Donnerstag zwischen 11:00 und 13:00 Uhr im Germanistischen Seminar (Palais Boisserée) für 7€. Tickets an der Abendkasse kosten ab 8,70€.